Als die Deutsche AIDS-Stiftung (DAS) im Juni drastische Kürzungen bei der Einzelfallhilfe ankündigte, erhob sich heftiger Protest. Zu den Kritikern gehörte Carsten Schatz, Mitglied im Vorstand der Deutschen AIDS-Hilfe (DAH). Im d@h_blog diskutiert er mit Stiftungsgründer Rainer Jarchow über die Forderungen aus der Community, die Einzelfallhilfe auf bisherigem Niveau zu erhalten und ein Mitbestimmungsrecht für Menschen mit HIV in der Stiftung einzuführen. Rainer Jarchow gehört heute dem Fachbeirat der DAS an, der den Vorstand berät.

Lieber Carsten, lieber Rainer, in der Kritik hieß es: Die Stiftung verliert ihre Kernaufgaben aus dem Blick.

Carsten Schatz: Unterstützung von Menschen in Notsituationen ist laut Satzung einer der zentralen Aufträge der Stiftung. Es ist verständlich, dass durch die Finanzmarktkrise einige Erträge zurückgehen. Aber es geht hier um die absoluten Basics: finanzielle Not, die auch soziale Ausgrenzung nach sich ziehen kann. Wenn es um die Waschmaschine geht, darf es keine Abstriche geben!

Rainer Jarchow: „Die Einzelfallhilfe war das Herz der Stiftung. Das ist sie jetzt leider
nicht mehr.“

Rainer, spart die Stiftung tatsächlich am Nötigsten?

Rainer Jarchow: Die Einzelfallhilfe war das Herz der Stiftung. Das ist sie jetzt leider nicht mehr, denn die Situation ist komplizierter geworden. Die Antragssteller befinden sich häufig in existenziellen finanziellen Schwierigkeiten, aber es ist oft schwierig zu erkennen, ob jemand speziell durch HIV in Not geraten ist. Die Stiftung kann nun mal leider nicht allen Bedürftigen ihr Hartz IV aufstocken, sondern immer nur mit Einmalzahlungen helfen.

Aber das eben auch nur mit wesentlich weniger Geld.

Rainer Jarchow: Das stimmt. Deswegen können wir so etwas wie Urlaub in Zukunft leider nicht mehr finanzieren. Medizinische Hilfsmittel oder Zahnersatz werden aber natürlich weiterhin übernommen. Und gerade jetzt ist es wichtig, dass möglichst viele Leute ihre Anträge stellen, damit der Bedarf sichtbar wird und wir ihn öffentlich thematisieren können.

Wie ist das mit der Waschmaschine? Fällt sie weg?

Rainer: Nein, es werden weiter Waschmaschinen bewilligt. Aber die Kriterien, nach denen die Bedürftigkeit beurteilt wird, haben sich verschärft. Das ist leider so.

Carsten, wie soll die Einzelfallhilfe auf bisherigem Niveau weitermachen, wenn weniger Geld da ist?

Carsten: Nach den veröffentlichten Berichten ist das Spendenaufkommen gar nicht zurückgegangen. Man könnte die Einzelfallhilfen belassen und müsste die Projekte ein bisschen zurückfahren.

Carsten Schatz: „Die Kürzung der Einzelfallhilfe hat bei vielen große Ängste ausgelöst.“

Die DAS hat gerade entschieden, das Gegenteil zu tun: Künftig fließt nur noch ein Drittel der Zuwendungen in die Einzelfallhilfe, ein weiteres in Projekte, das dritte in internationale Hilfsprojekte. Wie stehst du dazu, Rainer?

Rainer: Die Reduzierung der Einzelfallhilfe finde ich schmerzhaft. Die Konsequenzen dieses Schrittes hat die Stiftung in ihren Veröffentlichungen auch sicherlich etwas verharmlost. Die Entscheidung an sich hat aber gute Gründe. Viele Spenden sind mittlerweile zweckgebunden, in aller Regel für Afrika, weil das die Leute bewegt – die berühmten traurigen Kinderaugen. Viele Leute spenden auch ausdrücklich für eines der Wohnprojekte. Die Spenden, die für die Einzelfallhilfe zur Verfügung stehen, sind tatsächlich zurückgegangen.

Aber gehen nicht auch vermehrt freie Spenden in die Projekteförderung?

Rainer: Doch, durchaus. Denn wir müssen leider feststellen, dass die Armut von Menschen mit HIV in Deutschland keinen müden Euro aus den Leuten mehr rauslockt. Sie wird mit der allgemeinen Diskussion über Armut in einen Topf geworfen, und die ist so abstrakt, dass sie bei vielen Menschen ein Gefühl der Ohnmacht hinterlässt. Wenn man aber für ein bestimmtes Projekt wirbt, dann kommen die Spenden.

Die Entscheidung hat also auch etwas mit Akquise zu tun?

Rainer: Ja, die Leute hängen ihr Herz lieber an konkrete Projekte. Ich stehe aber auch inhaltlich dahinter: Die Projekte sind gute Projekte! Da geht es um Wohnen, Arbeitsbeschaffung, Ernährung, Gruppenreisen – das kommt den Betroffenen direkt zugute.

Carsten, warum hast du ein Problem mit den Projekten?

Carsten: Ein großes Problem habe ich damit nicht. Aber die Projekte müssen lernen, dass sie nach einer Anschubfinanzierung durch die Stiftung das Ganze in die Regelfinanzierung überführen müssen, zum Beispiel über die Sozialsysteme.

Rainer Jarchow: „Die Förderung der Projekte kommt direkt den Betroffenen zugute!“

Rainer: Das ist in der Regel aber auch so.

Carsten: Ansonsten stellt sich die Frage nach den Verhältnissen. Ich weiß nicht, wie viele Leute in solchen Wohnprojekten wohnen. Aber ich stelle mir die Frage, ob man von den Zuwendungen nicht für sehr viel mehr Leute Einzelfallhilfe machen könnte.

Rainer: Man darf bei der Diskussion aber nicht übersehen, dass viel von dem Geld, das in die Wohnprojekte fließt, gar nicht aus Spenden stammt. Es handelt sich auch um angelegtes Stiftungskapital, die Stiftung ist Miteigentümer dieser Häuser.

Carsten: Das löst aber nicht das Problem. Dass die Einzelfallhilfe um 50 Prozent gekürzt wurde, hat bei vielen große Ängste ausgelöst. Für mich persönlich war es auch immer eine Sicherheit zu wissen: Wenn’s dir mal richtig dreckig geht, dann kannst du bei der Stiftung einen Antrag stellen.

Rainer: Das hat sich auch nicht geändert! Und trotzdem bin auch ich sehr unglücklich mit der Budgetierung. Es stimmt, wir müssen die Stiftungszwecke erfüllen. Deswegen sage ich: Wenn nicht genug Spenden da sind, muss das Stiftungskapital angeknabbert werden.

Darf man das überhaupt?

Rainer: 15 Prozent auf jeden Fall – und das wären immerhin drei Millionen Euro jährlich.

Langfristig hölt man sich damit selber aus.

Rainer: Na und? Es kann nicht Aufgabe der Stiftung sein, in erster Linie das Stiftungskapital zu erhöhen und zu erhalten. Die Aufgabe ist, das vorhandene Geld für Bedürftige einzusetzen.

Rainer Jarchow: „Es stimmt, wir müssen die Stiftungszwecke erfüllen.“

Das würde aber die Mittel, die auf Dauer vergeben werden können, reduzieren.

Rainer: Mir wäre es recht, wenn die Stiftung ihr Geld in den nächsten fünf Jahren ausgäbe, und dann gibt es eben keine Stiftung mehr. Diese 21 Millionen wären gut eingesetzt. Der Stiftungsrat hat da natürlich eine ganz andere Auffassung. (lacht)

Carsten: Es geht aber ja auch gar nicht darum, die Stiftung gleich aufzulösen. Es geht um zwei-, dreihunderttausend Euro pro Jahr. Man könnte den Standard bei den Einzelfallhilfen erstmal aufrecht erhalten und in Ruhe schauen, ob das Geld tatsächlich nicht reicht. Ich glaube, dass sich die Einnahmen noch verbessern lassen, wenn man beim Fundraising nachjustiert. Ich würde gerne dazu beitragen.

Wie würdest du das denn machen?

Carsten: Es hat zwar kaum jemand Lust darauf, aber man muss sich dem neuen Aids stellen. Man kann heutzutage halt keine abgemagerten Leute mit Kaposi mehr fotografieren. Das neue Aids stigmatisiert aber nicht weniger als das alte, und es bringt ebenfalls materielle Not hervor. Das kann und muss man öffentlich darstellen.

Rainer: Wenn wir eine große Spende mit Zweckbindung für die Einzelfallhilfe bekommen würden, dann wären alle Probleme gelöst.

Klingt gut, aber die gibt es vorerst nicht, und ebenso wenig eine Mehrheit dafür, das Kapital anzurühren.

Carsten: Dann sollte man zumindest offen legen, was beantragt und bewilligt wurde. Wenn man transparent macht, wie groß der Kuchen ist, fördert man Verständnis. Und dann wäre eben über Mitbestimmung zu diskutieren. Wie kann so eine gravierende Entscheidung getroffen werden, ohne dass Menschen mit HIV und Aids einbezogen werden? Das steht in Widerspruch zu den Prinzipien unserer Bewegung.

Rainer: Die Frage der Transparenz ist sicher eine ganz wichtige. Wenn die Stiftung transportiert, wie ihre Entscheidungen entstehen, dann wird auch deutlich, wie schwierig sie oft sind. Wer will sich schon anmaßen zu entscheiden, wer bedürftig ist und wer nicht?

Carsten Schatz: „Wie kann es sein, dass so eine Entscheidung ohne Beteiligung der Community fällt?“

Würde diese Schwierigkeit nicht erst recht dafür sprechen, Communityvertreter verstärkt einzubeziehen?

Rainer: Wir haben lange Zeit einen Platz im Fachbeirat für einen Vertreter der DAH freigehalten. Der wurde nie besonders intensiv wahrgenommen. Im neuen Fachbeirat sitzt Klaus-Peter Hackbarth von der Aids-Hilfe Nordrhein-Westfalen und der Aids-Hilfe Essen. Darüber hinaus kann ich mir eine Communitybeteiligung schwer vorstellen. Wie sollte so ein Gremium aussehen?

Gefordert wird unter anderem: gleichrangige Beteiligung in allen Gremien.


Rainer:
Das geht schon vom Stiftungsrecht her gar nicht.

Carsten: Ich würde das auch nicht fordern. Es gibt den Vorstand, das Kuratorium, den Fachbeirat und den Stiftungsrat. Meines Erachtens müsste in jedem dieser Gremien ein Platz für Menschen mit HIV reserviert sein.

Rainer: Stiftungen unterliegen eigenen Gesetzen. Im Stiftungsrat sitzen die Kapitalgeber. Ich selber habe mich allerdings für den Fachbeirat entschieden, weil mich die Situation von Menschen mit HIV mehr interessiert als Anlagefragen. Der Fachbeirat wird vom Stiftungsrat berufen und berät den Vorstand, einer der Vertreter kommt von den Aids-Hilfen. Und dann gibt es das Kuratorium, ein repräsentatives und beratendes Gremium. Da sitzen Leute, die viel Öffentlichkeit herstellen und Fundraising betreiben, zum Beispiel die Baronin von Oppenheim, Guido Westerwelle und Hape Kerkeling.

Wer fällt Entscheidungen wie die über die Einzelfallhilfe?

Rainer: Das macht der Vorstand. Ich wüsste nicht, wie da eine Communitybeteiligung aussehen sollte.

Carsten: Wie ich es gesagt habe: Da sitzt dann halt jemand drittes im Vorstand. Und auch im Kuratorium sollte so jemand sitzen. Ich bin mir nicht sicher, ob Guido Westerwelle tatsächlich über Leben mit HIV in Deutschland im Jahr 2009 Bescheid weiß. Das ist ja die Krux beim Fundraising: Diejenigen, die losziehen, um das Geld besorgen, haben oft noch das alte Bild von Aids im Kopf.

Rainer: Man muss aber auch sehen, dass die Stiftung beim Fundraising in den letzten 20 Jahren ohne Community-Beteiligung ziemlich viel auf die Beine gestellt hat, während die DAH mit Beteiligung relativ wenig auf die Beine gestellt hat.

Rainer Jarchow: „Wir sollten an diesem Thema gemeinsam weiterarbeiten.“

Carsten: Die Sache hat zwei Seiten. Wir haben die Innenansicht vom Leben mit HIV, wissen aber nicht, wie Fundraising funktioniert. Die anderen wissen, wie Fundraising funktioniert, haben aber keine Innenansicht.

Rainer: Die Gremienmitglieder bekommen natürlich auch regelmäßig Informationen über das Leben mit HIV. Und ich nehme als Vorsitzender des Fachbeirats häufiger an Vorstandssitzungen teil. Da habe ich gelernt: Den Veränderungen in der Lebenssituation von Menschen mit HIV und Aids müssen wir Rechnung tragen. Wir müssen gemeinsam überlegen, wie die Stiftung darauf sinnvoll reagieren kann. Verstärkt Projekte zu fördern ist der Versuch einer Antwort. Aber mich interessiert auch die Meinung der DAH oder anderer Menschen mit HIV.

Ich fasse mal zusammen: Kommunikationsprozess gewünscht und nötig, aber noch keine Einigung darüber, in welcher Form.

Rainer: Ich denke schon, dass wir jetzt ein gemeinsames Thema gefunden haben, an dem wir in einem entsprechenden Gremium weiter arbeiten sollten. Daran sollten neben der Stiftung die DAH und vielleicht auch weitere Mitgliedsorganisationen teilnehmen. Das finde ich schon recht konkret.

Lieber Carsten, lieber Rainer, herzlichen Dank für dieses Gespräch!

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Holger Wicht

Holger Wicht, Journalist und Moderator, ist seit 2011 Pressesprecher der Deutschen Aidshilfe

4 Kommentare

  1. Damit habe ich vor Ort ein paar Argumente mehr in der Hand … auch hier gab es nämlich vereinzelt Verärgerung über den angeblichen Stop der Einzelfallhilfe.

    Dankeschön.

    Sehr nett wäre jetzt noch ein „Print“-Button 😉

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