Paul Schulz spricht mit den No Angels über starke Frauen, Niederlagen und den „Fall“ Nadja Benaissa.

Die No Angels sehen morgens um 10 noch nicht aus wie Popstars. Im Konferenzraum ihrer Plattenfirma Universal Music in Berlin sitzen nur vier schöne Frauen mit großen Augen, die ihren Job zu erledigen haben. Freundlich, charmant und offen. Sandy Mölling – die Blonde – hat während des Gesprächs ihren Sohn auf dem Schoß, wenn sich nicht gerade eine der anderen beiden jungen Mütter (Nadja Benaissa, Jessica Wahls) oder Tante Lucy (Diakowska) um das Kind kümmern. Es ist gut, dass der Kleine ab und zu dazwischen gurgelt, denn es geht um harte Themen: Emanzipation, HIV und wie man im Popgeschäft elegant auf die Schnauze fällt – und dann wieder aufsteht. Genau das versuchen die vier mit ihrem neuen Album „Welcome to the dance“ gerade.

Seit ihr schon wach genug, um über Niederlagen zu reden?

Sandy: Sicher. Schieß los!

Sandy: „Wir gucken nach vorne – auch wenn wir Angst haben!“

Ihr saßt nach dem letzten Platz beim Eurovision Song Contest 2008 in einer Kiste, auf der ganz groß „Looser“ stand. Wie kommt man da wieder raus?

Jessica: Das ging schneller als gedacht. Tat aber natürlich erst mal weh.

Sandy: Wir hatten viel, viel mehr erwartet und standen auch ein bisschen unter Schock. Aber da mussten wir durch. Und letzten Endes hat es uns gut getan.

Wie meinst du das?

Sandy: Es war eine heilsame Erfahrung. Wenn etwas so schief geht wie der Song Contest, dann gibt es keine Möglichkeit, darum herum zu reden. Da muss man dann einfach durch. Wir sind alle vier Menschen, die Dinge direkt angehen und auch nach vorne gucken, wenn sie Angst haben. Und so haben wir das in diesem Fall auch gemacht. Auch wenn’s nicht einfach war.

Lucy: Natürlich brauchte jede von uns erst mal ein paar Wochen, um das zu verarbeiten. Aber es war von Anfang an klar, das würde nicht unser Ende sein. Es musste etwas Neues kommen.

Klingt das neue Album deswegen so ganz anders als eure bisherigen Sachen?

Nadja: Das ist sicher ein Grund. Wir waren bei dieser Produktion sehr angstfrei und offen. Schlimmer konnte es ja nicht mehr kommen. Also sind wir mit dieser Haltung und unserem neuen Management im Rücken nach L.A. geflogen, haben uns Zeit genommen und Dinge einfach passieren lassen. Und wir wollten offenbar eine Platte machen, mit der wir und die Fans vor allem eins haben können: Spaß.

Sandy: „Wenn du am Boden liegst, wirst du gezwungen, die Dinge neu zu betrachten.“


Also ist es etwas Gutes, auf die Schnauze zu fliegen?

Sandy: Aber klar, um mal wieder runter zu kommen, und um aus dem Arbeitsalltag auszusteigen. Wenn du am Boden liegst, wirst du ja gezwungen, die Dinge noch einmal neu zu betrachten und zu anderen Schlüssen zu kommen als bisher. Das war für uns als Band im Nachhinein enorm wichtig. Wäre der ESC ein großer Erfolg geworden, hätten wir vielleicht gesagt: Na siehste, geht doch. Obwohl wir mit unserem letzten Album selber nicht hundertprozentig zufrieden waren. Weil das aber nicht funktioniert hat, waren wir viel offener für neue Ideen und haben jetzt genau das Album machen können, das wir machen wollten. Niederlagen sind doch immer gut für den Charakter, oder?

Gilt das Gleiche für das, was Nadja im April passiert ist?

Sandy: Das hat auch keine von uns umgebracht, wie du siehst.

Nadja, wie geht man als Frau damit um, wenn eine so persönliche Information wie die eigene HIV-Infektion so rücksichtslos in die Öffentlichkeit gezerrt wird und man so die Informationshoheit über das eigene Leben verliert?

Nadja: Ich fand es unglaublich würdelos und demütigend. Die ursprüngliche Berichterstattung durch die Boulevardmedien war zutiefst rassistisch und sexistisch. Ich habe mich auf eine Art diskriminiert gefühlt, von der ich nicht dachte, dass sie in Deutschland 2009 noch möglich wäre. Als Frau wurde ich sofort in eine Ecke gestellt: die Schlampe, die ist schuld. Die geht doch mit jedem ins Bett, die Hure. Und dann packen noch irgendwelche Exfreunde von mir über die Praktiken aus, die ich angeblich im Bett bevorzuge. Ich war schockiert und absolut fassungslos.

Da wusstet ihr schon, ihr würdet im Herbst ein neues Album herausbringen. War das Teil der Diskussion darum, wie man mit dem Thema umgeht?

Nadja: „Die meisten Menschen fanden würdelos, wie mit mir umgegangen wurde.“

Sandy: Nein. Darüber hat in diesem Moment wirklich keine von uns nachgedacht.

Nadja:
Es ging nicht darum, ob ich in der Band würde weitermachen können oder sowas. Die Frage hat wirklich niemand gestellt. Es ging viel mehr darum: Halte ich das hier aus, in diesem Land, mit dieser Art von Berichterstattung? Es gab ja jeden Tag einen neuen medialen Schlag in mein Gesicht und es schien auch nicht aufzuhören. Ich war wie die WM: Man kam an mir und meiner Infektion medial nicht vorbei. Hätte ich das ignorieren wollen, ich hätte Deutschland verlassen müssen, mit allen Konsequenzen, die das dann gehabt hätte. Und ich habe darüber auch nachgedacht.

Aber du bist hiergeblieben. Warum?

Nadja: Weil ich mir nicht mein Leben von ein paar Leuten ruinieren lasse, die Geld mit einer ekelhaften Schlagzeile verdienen wollen. Außerdem habe ich sehr schnell gemerkt, dass der Grundtenor der Menschen, die mir begegneten, ein ganz anderer war. Die meisten fanden das, was mit mir gemacht wurde, auch anstands- und würdelos. Jeder, dem ich auf der Straße begegne, von der Omi bis zu Teenies, ist zutiefst respektvoll und zurückhaltend. Selbst kleine Kinder haben schon das nötige Gespür dafür, was moralisch vertretbar ist und was nicht. Neulich stand eine Gruppe Siebenjähriger vor mir und einer von denen druckste so rum und sagte dann: „Ich wollte dich eigentlich was fragen, aber ich glaub, ich lass das lieber.“ Und die anderen Kinder bestätigten ihn in dieser Haltung und meinten, er solle das mal nicht fragen. Schon Kinder wissen: Man spricht Menschen nicht einfach auf ihre Krankheiten an und tritt das ungefragt breit.

Ihr vertretet ja von der Lesbe bis zur alleinerziehenden Mutter ohnehin schon ein breites Spektrum an Weiblichkeit …

(alle lachen)

Lucy: Schön, endlich mal jemand, der nicht darum herum redet.

Nadja, findest du es nicht anstrengend, dass du jetzt wahrscheinlich für die nächsten Jahre nicht mehr als Musikerin, sondern erst mal als HIV-Positive betrachtet werden wirst?

„Ich bin jetzt für ein paar Jahre Nadja von den No Angels, die positiv ist – damit muss ich leben“

Nadja: Es ist ein bisschen absurd, macht mir aber nicht so viel aus. Das war ja der Grund, warum ich nicht darüber reden wollte: Ich wusste, das würde mich stigmatisieren. Ich bin jetzt halt nicht mehr „die Nadja von den No Angels“, sondern „die Nadja von den No Angels, die positiv ist“. Das wird jetzt für eine Weile so sein und damit muss ich leben.

Meinst du nicht, dass sich das nach einiger Zeit erledigt haben wird? Es wird für die Medien ja auch uninteressant, wenn man ganz offen mit etwas umgeht.

Nadja: Ich hoffe es. Aber ich finde meine Position im Moment auch interessant, weil ich ja die einzige Frau bin, die sich in den Medien als Positive verhalten muss. Ich kann damit ja etwas Gutes bewirken, weil es dazu führt, dass sich junge Menschen, die immer weniger über HIV und Aids wissen, wieder mit dem Thema auseinandersetzen. Die merken jetzt vielleicht, dass man es eben nicht sieht, ob jemand HIV-positiv ist. Wenn ich so zur Aufklärung beitragen kann, ist das doch gut.

Ihr setzt euch als Band ja schon lange mit HIV und Aids auseinander. Sandy war vor fünf Jahren eins der Gesichter der gemeinsamen Welt-Aids-Tag-Kampagne von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Deutscher AIDS-Stiftung und der Deutschen AIDS-Hilfe. Lucy und Jessica haben gerade im Frühjahr bei der „Ich habe Aids nicht vergessen“-Aktion mitgearbeitet. War Nadjas Infektion, von der ihr alle ja schon lange wusstet, der Auslöser dafür?

Sandy: „Wenn wir helfen können, über HIV aufzuklären, müssen wir das auch tun.“

Sandy: Ich habe das gemacht, weil ich finde, dass es an Aufklärung zu HIV und Aids mangelt. Und natürlich habe ich mich selbst intensiver mit dem Thema beschäftigt, seit ich weiß, dass Nadja positiv ist. Und dabei gemerkt, was ich alles nicht weiß und was die Leute da draußen alles nicht wissen. Das ist fatal. Und wenn wir da helfen können, das zu ändern, dann müssen wir das auch tun.

Nadja, war die Band während der Vorgänge im Frühjahr auch eine Art Schutzraum, in dem du dich sicher und aufgehoben fühlen konntest?

Nadja: Ja. Man muss dazu verstehen: Ich bin durch meinen Beruf sozial ohnehin etwas isoliert. Ich habe keinen riesigen Freundes- oder Bekanntenkreis. Es gibt meine Familie und die Mädels und ein, zwei gute Freunde. Und die Band ist der Ort, wo ich ich selbst sein kann, wo ich geliebt werde, wo man hinter mir steht. Wir haben gemeinsame Ziele, arbeiten fantastisch zusammen und haben unendlich viel Spaß. Die drei sind auch mein Zuhause. Bei denen fühle ich mich sicher, ja.

Auf „Welcome to the dance“ gibt es einen Song, der „Shut your mouth“ heißt. Der ist im Wesentlichen eine Aufforderung an Menschen und Medien, die euch Böses wollen, einfach den Mund zu halten. An den Boulevard-Medien kommt man in diesem Land aber als Popstar nicht vorbei. Wie redet man mit Medien, die einem gerade so übel mitgespielt haben?

Nadja: Das weiß ich noch nicht, ich werd’s herausfinden.

Jessica: Im Moment reden wir gar nicht mit denen.

Sandy: Und ich finde auch nicht, dass man unbedingt die Boulevard-Medien braucht, um in Deutschland Musikerin zu sein. Qualität überzeugt auch so. (lacht)

Lucy: „Wir brauchen keine zweite Hetzjagd, wir hatten gerade eine.“

Lucy: „Shut your mouth“ bezieht sich ja nicht nur auf Medien, sondern auf jeden, der sich das Maul zerreißt, Lügen verbreitet oder einem schaden will.

Nadja: Auf Menschen, die ihr Glück aus deinem Unglück beziehen. Dabei ist es völlig egal, ob die in den Medien sitzen, oder anderswo.

Lucy: Wir sind keine pressefeindliche Band und reden wirklich gern mit jedem, der uns sachlich und vernünftig darstellt. Für alles andere lassen wir uns noch ein bisschen Zeit. Wir brauchen keine zweite Hetzjagd, wir hatten gerade eine. Im Moment geht es einfach nur um die Musik.

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